Ein Ort noch im Winterschlaf, eine Ruine, ein Kieselstrand gleich neben einem Ölhafen, hohe Klippen, windiges Wetter, Sonne im Gesicht und … wir haben zwar keine Eile, spüren aber trotzdem sowas wie Entschleunigung.
Eigentlich sollte dies der Artikel über Le Havre werden. Die Hafenstadt ist aber interessanter als gedacht – der Teil also unerwartet lang, so dass ich ihn auslagere.
Wir haben uns wieder einmal einen kostenlosen Stellplatz nur für eine Nacht herausgesucht, und dann überrascht uns der Standort mit einer überaus reizvollen Umgebung. Diesmal ist es Saint-Jouin-Bruneval
23 Kilometer von Le Havre entfernt. Den Stellplatz gibt es schon länger, aber die baulichen Veränderungen lassen vermuten, dass die Gemeinde hier bald Schranken und Zahlungsterminal aufstellt.
Saint-Jouin-Bruneval? Ist dort nicht der zweitgrößte Ölhafen Frankreichs, wo Supertanker bis zu 600.000 Tonnen entladen werden können? Ja, stimmt, und der Badestrand ist gleich neben dem Hafen. Aber so schnell legt hier kein Tanker mehr an. Wikipedia erklärt warum:
Unser Spaziergang
Zwischen 1967 und 1975 war der Suezkanal wegen der Spannungen im Nahen Osten geschlossen und Öltanker mussten die viel längere Route um das Kap der Guten Hoffnung wählen. Als Reaktion darauf wurden größere Tanker in Betrieb genommen, die allerdings zu viel Tiefgang aufwiesen, um den alten Hafen von Le Havre anzulaufen. Deshalb entschloss man sich für den Bau eines Vorhafens in Saint-Jouin-Bruneval. Die zeitliche Abfolge erwies sich jedoch als ungünstig, denn im Jahre der Eröffnung des Hochseehafens, wurde der Suezkanal, der für die neuen Supertanker grundsätzlich nicht passierbar ist, wieder geöffnet. Um die Auslastung des Hafens Saint-Jouin-Bruneval zu verbessern, wird geplant, diesen in eine Anlegestelle für Flüssiggastanker umzuwandeln. Dies wäre aber mit erneuten Umbauten und einer weiteren Vergrößerung verbunden, was bei einem Teil der lokalen Bevölkerung auf heftigen Widerstand stößt.
Alles klar. Jetzt stören nur noch die Öltanks am Ufer. Aber die Aussicht zur anderen Seite passt schon eher auf eine Postkarte.
Château du Clos des Fées

Galerie am Bauzaun (Bild: Artvill, Lizenz: CC BY-SA 4.0)
Wir schlendern durchs Dorf und wundern uns über die Stille. Kaum Autos, wenig Passanten, keine Geschäftigkeit, keine Touristen – zu dieser Zeit noch ein verschlafener Ort. Von den Bauwerken beeindruckt uns diesmal nicht die Kirche, sondern das Château du Clos des Fées . Bauwerk ist gut – mehr eine bessere Ruine, aber die bizarre Architektur ist noch gut erkennbar.
Louis Besnard, Sohn des prominenten Malers Albert Besnard , war Anfang des 20. Jahrhunderts Bürgermeister in Saint-Jouin-Bruneval und ließ mit dem Vermögens seines Vaters dieses eindrucksvolle Denkmal 1902 errichten. Damit sollten berühmte Pariser Persönlichkeiten zu besonderen Anlässen an die Atlantikküste gelockt werden. Das "Clos des Fées" – benannt nach einem früheren Nonnenkloster – wurde zu einem angesagten Treffpunkt der feinen Gesellschaft. Interessanter Name übrigens: Clos bedeutet soviel wie „hinter verschlossenen Türen“ und Fées sind … na ja … Feen. Hey, moment … unser Wort „Kloster“ (von lat. claustrum) bedeutet ja dasselbe – wieder was dazugelernt.
Heute wirkt das Schloß aufgrund eines Brandes in den 70er Jahren wie eine gespenstische Filmkulisse. Wer ein Faible hat für “Lost Places“ findet hier ein spannendes Studienobjekt. Die in der Open-Air-Galerie 2021
ausgestellten Fotos mit Motiven aus den Räumen der Ruine hängen heute am „Bauzaun“ um das Gebäude herum. Erstklassig. Wenn du mal hier bist, dann kannst du ja beim Betrachten der Bilder spekulieren, was in dem Gebäude vor dem Feuer untergebracht war.
Im Ort
Was hat der Ort noch zu bieten? Wir entdecken einen Bäcker, einen Tante-Emma-Laden und ein paar Restaurants. Und einen Patt direkt zur Steilküste. Den gehen wir nun und gelangen an den Aussichtspunkt beim Restaurant „Belevedere“. Das hat leider noch geschlossen. Einige großformatige Infotafeln erklären uns Flora und Fauna der Gegend sowie den Bau dieses tollen Hafens. Gestern abend haben wir hier schon einmal gestanden und den wunderbaren Ausblick die Klippen entlang genossen. Da sind wir allerdings über einen Trampelpfad direkt vom Stellplatz aus hierhin gelangt.
Am Strand
Jetzt gehen wir die steile Treppe hinunter zum Strand. Es ist windig und so sind die Wellen und der Lärm der Brandung schon ganz ordentlich. Marianne erholt sich vom Abstieg und ich gehe ein Stück nach links den Strand entlang bis es nicht mehr weiter geht. Hier schlagen die Wellen direkt an die Felsen und ich versuche, einige der Gischtfontänen zu fotografieren. Meine Methode: nah ans Wasser gehen, hinknien, Objektiv ausrichten und abwarten. Dabei bekommt man ja nicht mehr so gut mit, was um einen herum passiert ...
Nicht mehr ganz trocken gehe ich zurück, hole Marianne ab, und wir schlendern (über die Kieselsteine) zum Imbiss an der „Gastropromenade“ zwischen Parkplatz und Strand. Marianne bestellt Kaffee und Crêpes. Der Kaffe kommt sofort, aber die „Pfannkuchen“ dauern ewig. Na ja, denke ich, dann werden sie wohl frisch sein und nicht (wie manchmal bei solchen Buden) aufgebacken. Und so war es dann auch. Lecker. Die Sonne scheint uns ins Gesicht und wir geniessen den Blick aufs Meer, auf den kleinen Drachen, der im Wind flattert, und auf den Wellenreiter, der nicht so richtig in die Gänge kommt. Herrlich.
Den Rückweg gehen wir einen Patt neben der Straße. Dieser Weg beginnt in der nordöstlichen Ecke des großen Parkplatzes (siehe Karte) ein paar Höhenmeter unterhalb (!) der Straße. Neben einer Straße gehen ist ja meist kein Vergnügen, aber in diesem Fall führt uns der Patt durch hohe Ginsterbüsche, dessen gelbe Blüten zusammen mit dem Löwenzahn einen schönen Kontrast zum satten Grün der Gräser bilden.
Mit einem schönen Abendessen lassen wir einen schönen Tag und unseren letzten Abend hier ausklingen. Ich liebe die Drehsitze im Wohnmobil, weil man dann (als kleiner Mensch) eine bequemere Haltung zum Essen einnehmen kann (Füße auf dem Beifahrersitz). Dabei wir mir bewußt, daß wir noch nie eine Boje vor dem Fenster hatten. Die Entsorgungsstation liegt direkt davor und gehört auch zum Fernsehprogramm. So bekommen wir mit, wie sich selbst die Franzosen mit der Wasserversorgung abmühen.
Wir haben unseren Plan für morgen geändert. Die Umgebung ist eigentlich ganz schön und deshalb wollten wir in Saint-Jouin-Bruneval bleiben und mit dem Bus nach Le Havre fahren. Aber die unsichere Versorgungslage hier (Wasser zapfen/bezahlen scheint schwierig zu sein) sowie die noch nicht voll durchschauten Modalitäten des Busfahrens in Frankreich stimmen uns um. Wir werden morgen früh versuchen, einen Nische auf dem kostenlosen Stellplatz in Le Havre zu bekommen.
Schaun mer mal, dann sehn mer scho.